Die Motorradfahrt

 

Anfang April in der Paulstraße 4 im Nordwesten Deutschlands.
Der Himmel ist verhangen mit dunklen Regenwolken, die den Tag fast zur Nacht machen.
Vereinzelt schlurfen Menschen im Regenmantel vorbei, ein magerer Straßenköter jagt
eine Katze, vom Mittellandkanal hört man eine Schiffshupe. Ein Tag wie jeder andere.
Ein Tag wie jeder andere? Nein, was ist das? Eine muskulöse Gestalt, von den Zehen bis
zu den Zähnen in Leder, streunt in geduckter Haltung nervös mit den Zündschlüsseln
klappernd um eins der begehrtesten Motorräder der Welt herum, raucht eine Kippe nach
der anderen und läßt alle 10 Sekunden den Blick sorgenvoll gen Himmel schweifen -
Rölfi the race face is in the real condition. In der Einfahrtschneise der Paulstraße 4
steht eine Suzuki Bandit bereit. Der Tank randvoll mit frisch gezapftem Benzin,
dem Fahrwerk wurde mit der rechten Digitalhand gefühlvoll eine geheime
Rennstreckenabstimmung verpaßt, die neu aufgezogenen Reifen riechen noch leicht nach Gummi.
Selten hat sich Rölfi the race face einen wärmenden Sonnenstrahl so sehnlichst
herbeigewünscht, selten war es so schwer, Minute um Minute tatenlos verstreichen zu lassen.
Aber seine Geduld wird belohnt: der Himmel wird blau, die Sonne läßt die Wasserpfützen
auf dem Asphalt dampfend verdunsten. Endlich!
Rölfi dreht den glühend heißen Zündschlüssel um und entlockt der Bandit den ersten
ohrenbetäubenden Krawallsound. Einzelne Fensterscheiben platzen. Der Motor läuft warm.
Die Muskeln spannen sich, der Blick wird cool. Ein letzter Gedanke an die in vielen Nächten
geheim geänderte Steuerung des Exup-Systems, das dem Motorrad noch einige zusätzliche Pferde
einhauchen soll. Die Suzuki Bandit tritt an. Start frei. Es gibt nur eine Richtung:
Pole-Position. Das Spiel beginnt.
Bis Obersteinbeck werden die Reifen warm gefahren. Im zweiten Gang geht's übers Stoppschild
rechts ab auf die Zielgerade nach Hopsten. Rölfi ist kein Stoppschildbremser, kein Weichei.
Jetzt durchbeschleunigen bis kurz in den Fünften, bevor am Bremspunkt Heiliges Meer (Fußgänger)
knapp 230 Sachen auf dem Tacho stehen. Jetzt heißt's aber Kopf hoch und ordentlich in die Eisen.
Hoppla, da wird das Heck der Bandit aber ganz schön leicht. Die 10-Kolben-Nissin-Beißerchen
packen brutal zu und verbeißen sich in die 330er Pizzateller im Vorderrad, zwei Finger leicht
am Bremshebel reichen aus, um die Upside-down-Gabel heftig auf Tauchstation zu bringen.
'Bißchen unterdämpfte Gabel', denkt Rölfi the race face, 'aber da kann ich mich jetzt nicht drum kümmern'.
Durch die Bandit-typische sportlich-entspannte Sitzposition fühlt er sich sicher und kann sich
langsam an die Grenzen des Fahrwerks herantasten, um dann beim Herausbeschleunigen den
gleichmäßigen Schub des Vierzylinders zu genießen. Rölfi verschmilzt mit seinem Motorrad.
Kraftvoll drückt sich die Bandit schon aus unteren Drehzahlbereichen nach vorn und setzt
jeden Millimeter am Gasgriff fast digital in Schub um. Es geht brutal nach vorn,
ab etwa 8.500 Touren wird das Leistungskonzert dann noch mal intensiver und, hoppla,
da wird das Vorderrad aber leicht. Rölfi verzichtet jetzt auf unnötige Wheelies, denn
beim Aufsetzen neigt die Bandit zu deutlichem Kickback am Lenker. Aber er weiß: für solch
kleine Wehwehchen könnte ein Lenkungsdämpfer die Lösung sein.
Hopsten wird trotz Radarfalle hinter dem Ortsschild mit 180 durchfahren. Rölfi the race face
ist kein Ortsschildbremser und kein Radarfallenbremser, kein Weichei. Er ärgert sich, daß die
Ampelanlage in Hopsten durch einen Kreisverkehr ersetzt wurde, denn er ist kein Roteampelbremser.
Er könnte das beweisen, wenn eine Ampel da wäre. Rölfi blinkt nicht. Nur Weicheier blinken.
Er ist kein Kreisverkehrblinker. Es geht Richtung Schapen. Rölfi drückt den Knopf für die
geheime elektronische Während-der-Fahrt-Verstellung der Sitzbank um 10 cm nach hinten.
Für die Eingewöhnung an die jetzt wesentlich windschnittigere Sitzposition müssen die
paar km bis Schapen reichen. Er hat keinen Blick für das große Schild mit der Geschwindigkeitswarnung,
an dem ein Motorradfahrer klebt. Der Vierzylinder drückt tierisch, aber die hervorragenden
Reifen beruhigen Rölfi's Nerven durch ein glasklares Feedback und einen wunderschön fühlbaren
Grenzbereich. Es ist enorm, wie die Bandit aus den Ecken beschleunigt, ohne daß er dabei in
irgendeiner Weise die Kontrolle verliert. Gut, die (geheim vorgenommene) Rennabstimmung und
Änderung der Steuerung fordern ein deutliches Plus an Kondition, fahrerischem Können und Konzentration,
aber dafür ist der Spaßfaktor durch das überwältigende Drehmoment, das der Vierzylinder schon im
Drehzahlkeller ans Hinterrad schaufelt, einfach riesig. Die Kombination von sattem Motorpunch
und präzisem Fahrwerk vermittelt höchste Rennperformance. Diese hardware überzeugt.
220, 240 ... Blitz ... Radar .... Bulle ... Schei...!!! Rölfi nimmt sich eine Pause für einen
kleinen Plausch mit dem Polizisten. 'Hier sind 70 erlaubt, und Sie sind gerade 240 gefahren,
Sportsfreund', fängt der an rumzunölen. 'Wie soll ich denn bei dem Tempo so'n kleines Schild erkennen können?'
kontert Rölfi, 'get your fucking voice out of my head!' Der Polizist tut so, als ob das für ihn
ein überzeugendes Argument wäre. Da er aber eher zu den Manta-Mannis unter den Polizisten
gehört und kein Englisch versteht, weiß er in Wirklichkeit nicht, was er in den Strafzettel
schreiben soll, weil er das nicht schreiben kann. Diesen Fall kann er nicht lösen.
Freren ist erreicht, Bevölkerungs- und Verkehrsdichte nehmen zu. Durch die elektronisch nach
hinten verstellte Sitzbank und der stark nach vorn gebeugten Haltung macht die langsame Fahrt
im Stadtverkehr den Handgelenken ordentlich zu schaffen, denn erst ab ca. 120 bringt der
Fahrtwind Entlastung. Rölfi denkt an 240, sieht aber plötzlich an der DEULA am Ende einer dick-schwarzen
und 20 m langen Bremsspur eine 600 er Yamaha parken: rot-weiß mit selbstgebautem Kettenschutz
und mit eingebrannten Assen-Grasbüscheln an der noch zischenden Krawalltüte -
'Das muß doch Ernzi's Mopped sein', denkt Rölfi und dreht mit der digitalen rechten Gashand voll auf.
Eine Oma auf dem Bürgersteig fällt vor Schreck in Ohnmacht, die Fensterscheiben der DEULA zerplatzen,
der Unterricht ist zu Ende. Hinter dem schwarz verspiegelten Visier macht sich ein feistes Grinsen breit.
Plötzlich: da vorne promenieren zwei Tussis mit superscharfem Minirock. In die Eisen, Mann!
Rölfi reagiert blitzschnell und geht voll in die Eisen (hartes Anbremsen kann der Bandit höchstens
hin und wieder mal ein leichtes Zucken im Vorderbau entlocken). Er klappt das schwarz verspiegelte
Visier hoch. Mit runtergeklapptem Visier könnte man seinen coolen Blick nicht sehen. Er fährt ganz,
gaaaanz langsam vorbei, seine linke Hand liegt bei leicht auftippenden Fingern locker auf dem Oberschenkel.
Diese Geste bedeutet (im Zusammenspiel mit dem zielgerichteten coolen Blick) soviel wie:
'Dich merk' ich mir, Mäuschen, aber ich hab' jetzt keine Zeit'. Beide Tussis haben verstanden.
Die eine schmachtet Rölfi bewundernd hinterher, die andere fängt an zu heulen.
Aber Rölfi the race face hat - wie gesagt - keine Zeit. Ortsausgang Freren: Er sticht in die Kurve,
wobei ihn wieder einmal die absolute Zielgenauigkeit seiner Bandit verblüfft. Schräglagenwechsel?
Schikanen? Aber gerne! Herausbeschleunigen aus voller Kurvenfahrt? Mit Vergnügen!
Eine blaue R1 kommt ihm mit funkensprühenden Fußrasten und 35-Grad- Schräglage aus der nächsten
Kurve entgegengekachelt, dahinter liegen 2 Autos kopfüber in der Wiese. Die Fahrerhaltung
entspricht ungefähr der eines in der nächsten Sekunde zum Sprung ansetzenden, hungrigen Pumas:
Chrisi fährt ein bißchen spazieren. Ein lässiger Heizer - Gruß (ein Knie berührt den Asphalt)
reicht - man kennt sich. So long, Baby, gib' Gummi!
Rölfi nimmt den Schwung aus der letzten Kurve mit auf die nächste Gerade, wo ein paar andere
Big-Bikes und ein Yoghurtbecher sich an seine Fersen heften, aber nicht an ihm vorbeikommen
(bis auf eine). 'Was'n los, Ihr Stützradfahrer?' denkt Rölfi, 'habt wohl vergessen, Euren choke
wieder reinzudrücken, wa? Har, har.' Und tatsächlich: weil sein (geheim abgestimmtes) Fahrwerk
mit einem Kurvenquerbeschleunigungswert von 1,1 g beim Bremsen keine Zicken macht, liegt Rölfi
noch geduckt hinter der Verkleidung, während seine Verfolger (bis auf einen) schon mit tänzelndem
Hinterrad auf die nächste Kurve zusteuern. Es bleibt niemandem (außer einem) erspart,
in den mächtigen Auspufftopf seiner Bandit zu gucken. Aber Rölfi ist nicht zufrieden.
Er will immer alles oder nichts. Er ist kein Weichei. Wer zum Teufel war dieser Mistkerl,
dieser eine, der sich mit der linken Hand eine Zigarette drehte, während er Rölfi mit demonstrativer
Lässigkeit überholte und ihm das Gefühl gab, im dritten Gang zu fahren? Ihm blieb keine Zeit zum gucken,
denn alles ging viel zu schnell. Der Ofen war gelbschwarz. Rölfi denkt scharf nach:
'Das kann nur eine Fireblade gewesen sein! Die tauchen immer auf wie aus dem Nichts'.
Der Heimweg verläuft etwas gelassener, weil Rölfi die ersten Sofortmaßmahmen nach der Fahrt
gedanklich durchspielt: 'Was spuckt das 2D Data-Recording aus?' ... 'Ich muß sofort zur
Leistungsmessung auf den Dynojet-Prüfstand' ... 'Was war das da am Heiligen Meer? Ach ja,
Gabel ist etwas unterdämpft' ... 'Lenkungsdämpfer' ... Auch die nächsten Nächte in der
geheimen Werkstatt werden gedanklich durchgeplant, und Rölfi setzt Prioritäten: Alle Hochzeiten,
Geburtstage und Beerdigungen müssen bis auf weiteres abgesagt werden ... nur ein Gedanke bohrt
sich immer wieder wie ein weißglühender Eisenkeil durch sein Gehirn, und er weiß, daß es immer
ein Geheimnis bleiben wird: Wer war bloß dieser Kerl mit der Fireblade?

Rölfi fährt heim, der am Horizont rotglühend untergehenden Sonne entgegen.

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